RuhrGesichter Fjodor Dostojewski hat seine Erlebnisse aus einem sibirischen Gefangenenlager detailliert aufgezeichnet, diese Beschreibungen nutzte Leoš Janáček als Vorlage zu seiner unkonventionellen Oper. Er schrieb auch das Libretto des Werkes in drei Akten; kompositorisch gerät das Unterfangen überraschend rhythmisch, hart, rau, grob und versucht damit die Lagerrealität auch musikalisch abzubilden. Dmitri Tcherniakov nutzt die gewaltigen Ausmaße der Bochumer Jahrhunderthalle zur Gänze aus und erschuf ein beängstigend realistisch wirkendes Gefangenenlager, in dem sich die Zuschauer gemeinsam mit den Akteuren wiederfinden.

Aus einem Totenhaus                                                      

Große Oper von Leoš Janáček in Bochum

Schützende      Grenzen      zwischen      Bühnenhandlung      und      Zuschauerraum verschwimmen   hier   nicht   nur,   sie   sind   kaum   noch   sichtbar   und   werden   nach   ein paar   Minuten   „Lagerleben“   nicht   mehr   wahrgenommen.   Wir   werden   Teil   der Zwangsgemeinschaft   der   Hoffnungslosen   im   Lager   (obschon   es   für   uns   natürlich Notausgänge   geben   würde.   Wie   schön,   dass   wir   nicht   in   Sibirien,   sondern   in Bochum    weilen.).    Die    Oper    kommt    ohne    Protagonisten    aus,    es    handeln ausschließlich    Männer    und    Liebe    ist    zwar    in    den    Gesprächen    immer    wieder Thema,    aber    kein    gewichtiges    Handlungselement.    Es    gibt    keinen    klaren Handlungsfaden,    sondern    nur    episodenhafte    Erzählungen,    die    Charaktere durchlaufen   keine   Entwicklung;   es   ist   das,   was   Dostjewski   bereits   im   Titel   seines Werkes mit dem korrekten Begriff beschrieb: Es ist ein Blick in ein Kellerloch. Wir    hören    aus    unmittelbarer    Nähe,    wie    die    Gefangenen    von    ihren    Taten berichten,   es   gibt   Kampfszenen,   bei   denen   nicht   nur   wir   die   Köpfe   einziehen.   Wir Ruhrgesichter   wandeln   seit   unserer   Geburt   als   Klugscheißer   und   seit   mehr   als einem   Jahrzehnt   als   Kritiker   über   diesen   Planeten,   aber   dieses   immersive   Erleben einer Oper, das ist neu. Diese   Inszenierung,   besticht   nicht   nur   durch   das   exzellente   Bühnenbild,   in   dem sich   die   tapfersten   Zuschauer   von   den   Gefangenen   an   den   Rand   des   Lagerhofes gedrängt   wiederfinden   (knapp   zwei   Stunden   stehend,   (fast)   keine   Sitzplätze.   Das ist   für   das   Ruhrtriennale   Publikum   eine   zum   Stück   passende   Zumutung,   die   von dem   ohnehin   stets   mutigen   und   experimentierfreudigen   Ruhrtriennale   Publikum jedoch    gemeistert    wird)    oder    sich    eine    oder    zwei    Etagen    höher    auf    dem Gefängnisumlauf wiederfinden. Die     Latte     wird     durch     das     Setting     und     das     ausgewählte,     musikalisch anspruchsvolle   Werk   so   hoch   gelegt,   dass   kein   Solist,   kein   Darsteller   inklusive   der professionellen   Stunt-Crew   nur   Mittelmaß   sein   kann,   sein   darf.   Der   fabelhaft   gute Chor   und   der   indirekte   Klang   der   Bochumer   Symphoniker   unter   der   Leitung   von Dennis   Russell   Davies   bilden   mehr   als   nur   den   klanglichen   Sockel   für   die   Solisten. Welch   eine   Abstimmung   und   Präzision   gerade   bei   dieser   Inszenierung   zwischen Orchester,   Chor   und   Solisten   notwendig   ist,   die   sich   nicht   immer   sehen   (und wenn,   dann   oft   nur   über   Monitore   im   Gefängnishof)   und   sich   nur   indirekt   mit Schallverzögerung hören, ist für den Laien kaum zu ermessen. Ob   bei   den   Massenszenen   mit   Jubelchören   oder   den   Massenschlägereien;   den einsamen,    harten    Erzählungen    der    Solisten:    Es    ist    ein    für    das    Publikum fundamentaler   Unterschied,   ob   in   zwanzig   Metern   Entfernung   auf   der   Bühne gespielt   wird,   oder   der   Sänger   für   seine   persönliche,   intensive   Beichte   einen guten    Meter    neben    dem    eigenen    Ohr    steht    und    im    nächsten    Moment    eine zunehmend   aggressive   Stimmung   in   einem   Gewaltausbruch   mündet,   bei   dem   der geneigte Kunstkenner bereits nach einem geeigneten Versteck Ausschau hält. Wenn   man   der   Inszenierung   etwas   Kritik   entgegenflüstern   darf,   dann   vielleicht diese:   Es   herrscht   ein   derart   spürbarer   atmosphärischer   Überdruck   in   den   ersten zwei    Akten,    dass    die    Tristesse    der    Lebensbeichten    und    die    Feinheit    des Orchesterspiels nicht immer den Raum bekommen, den sie verdient hätten. Da   wir   jedoch   keine   Idee   haben,   wie   dies   besser   umzusetzen   gewesen   wäre, ohne   dem   Gesamtwerk   an   harter,   brutaler   Intensität   zu   nehmen,   werten   wir diesen    Mangel    als    Kollateralschaden    und    lassen    den    Besserwisser    in    uns verstummen. Der   Applaus   und   Jubel   am   Ende   des   Stücks   (der   Begriff   Standing   Ovations erübrigt   sich,   da   ohnehin   jeder   steht)   ist   laut,   anhaltend   und   absolut   verdient; allerdings   mischt   sich   in   die   Begeisterung   für   die   Inszenierung   sicherlich   auch   ein persönliches   Aufatmen   und   die   Erleichterung,   diesem   „inspirierenden   Alptraum“ bald entkommen zu sein. Fazit:   Das   war   neu   selbst   für   diejenigen,   die   eigentlich   schon   alles   gesehen haben.   Es   war   musikalisch   erwartbar   groß   und   anspruchsvoll,   jedoch   unerwartet grandios     umgesetzt,     so     dass     es     unmöglich     erscheint,     einzelne     Solisten herauszuheben.   Opernsänger   wie   Johan   Reuter,   Stephan   Rügamer   und   Bekhzod Davronov   sind   sicherlich   Stars   der   Oper,   was   in   Erinnerung   bleibt   und   weit   über diesen    bemerkenswerten    Abend    nachwirken    wir,d    ist    jedoch    die    mit    einer Traumbesetzung geschaffene Gesamtinszenierung: Chapeau. Alle aktuellen Informationen zur Ruhrtriennale finden sich hier: https://ruhrtriennale.de/
(c) Volker Beushausen
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