RuhrGesichter „Hemşerim memleket nire?                                                         Bu dünya benim memleket.                                                     Woher kommst Du, mein Freund?                                   Diese Welt ist meine Heimat.“

Gaye Su Akyol                                                               

…im Landschaftspark Duisburg

Ein   verführerischer   Sog   aus   nahöstlicher   Volksmusik,   psychedelischen   türkischen Klängen,   Post‑Punk   und   modernem   anatolischem   Rock   zog   das   Publikum   an diesem    Spätsommerabend    in    die    halboffene    Gießhalle    des    Landschaftsparks Duisburg‑Nord   –   einer   der   eindrucksvollsten   Festivallocations   der   Ruhrtriennale 2025 – zu einem Live-Konzert von Gaye Su Akyol. Der    Landschaftspark    Duisburg‑Nord    ist    als    Ort    des    Konzertgeschehens    ein beeindruckendes   Beispiel   für   postindustriellen   Kulturwandel.   Auf   dem   Gelände eines    stillgelegten    Hüttenwerks    entstand    ein    großer    Park    mit    erhaltenen Industriebauten     und     kulturellem     Leben.     Die     Gießhalle     –     einst     Ort     des Roheisen‑Abstichs – ist heute eine halboffene Veranstaltungsarena. Wir   waren   im   Vorfeld   des   Konzertes   gespannt,   wie   viele   Zuhörer   die   Künstlerin   im Ruhrgebiet   kennen   und   wie   groß   die   Schar   sein   wird,   die   sich   von   ihr   an   diesem denkwürdigen   Abend   verzaubern   lassen   wollen;   tatsächlich   strömten   knapp   600 weitgehend   textsichere   Fans   (während   wir   von   den   türkischen   Texten   kein   Wort verstanden) in den Landschaftspark und keiner von ihnen sollte es bereuen. Wenn   Gaye   Su   Akyol   mit   ihrer   umwerfenden   Präsenz   und   zurückhaltenden,   aber wirkmächtigen    tänzerischen    Bewegungen    die    Bühne    betritt,    wird    es    laut, futuristisch,   bunt   und   es   beginnt   der   klangliche   Zauber:   Die   Musik   grooved, schiebt   mit   psychedelischen   Anadolu   Rock,   einer   Portion   Postpunk   und   einem Hauch   Trip-Hop.   Urbane   Reflexionen   aus   Istanbul,   verschmolzen   mit   industrieller Architektur    im    Landschaftspark,    befeuert    von    der    Flamme    künstlerischer Rebellion. Geboren   am   30.   Januar   1985   in   Istanbul,   Tochter   des   bekannten   Malers   Muzaffer Akyol,   wuchs   Gaye   Su   Akyol   im   Spannungsfeld   zwischen   bildender   Kunst   und Musik    auf.    Sie    studierte    Sozialanthropologie    an    der    Yeditepe-Universität    und schloss   2007   erfolgreich   ab.   Parallel   entwickelte   sich   ihr   Talent   als   Malerin   und Musikerin   weiter   (ihren   ersten   Song   schrieb   sie   tatsächlich   bereits   mit   5   Jahren). Sie   spielte   in   Bands   wie   Mai,   Toz   ve   Toz   und   Seni   Görmem   İmkansız,   bevor   sie sich ab 2014 als Solokünstlerin etablierte. Ihr   Sound   ist   eine   faszinierende   Mischung:   Anatolische   Volksmusik,   Psychedelic Rock   der   60er/70er   Jahre,   ein   bisschen   (!)   Grunge,   Surf‑Rock   und   Post‑Punk verbinden   sich   zu   einer   visionären,   hypnotischen   Klanglandschaft   –   mit   Vorbildern wie Selda Bağcan oder Nick Cave. Akyol   ist   Teil   der   künstlerischen   Opposition   in   der   Türkei   und   sieht   sich   selbst   als Brückenbauerin   zwischen   Orient   und   Okzident   –   ein   Anspruch,   der   hörbar   und spürbar   in   ihrer   Musik   verwirklicht   ist.   Sie   steht   für   eine   Welt   ohne   Grenzen,   auf der   alle   Menschen   in   Frieden   frei   sein   können,   singt   für   die   weltweite   Community der   “queeren”   Menschen   und   ruft   dem   Publikum   im   Landschaftspark   zu:   „Free Palastine“;    all    das    kommt    in    der    Gießhalle    gut    an    und    erntet    lautstarke Zustimmung.   Angesichts   des   Chaos   und   dem   Krieg   in   der   Welt   betont   sie,   dass die    verantwortlichen    Regierungschefs    natürlich    allesamt    weiß    sind.    Unter anderem   den   Hinweis,   dass   Äthiopien,   der   Sudan,   Tschad,   Mali,   Ruanda,   Jemen, Nigeria,    Burkina    Faso,    der    Kongo,    Somalia,    Äquatorialguinea,    Myanmar    oder Kamerun     nun     auch     nicht     allesamt     von     Friedensfürsten     regiert     werden, verschlucken wir an dieser Stelle im Dienste des Konzertberichtes. Wir   Ruhrgesichter   haben   die   Künstlerin   erst   spät   mit   „Anadolu   Ejderi“   für   uns entdeckt.   Auch   live   entfaltet   sich   eine   ganze   Welt,   die   sich   mit   Ohren   und   Augen erkunden   lässt:   Musikalisch   vielfältig,   klanglich   wuchtig.   Treibende   Percussions, psychedelische   Gitarren,   folkloristische   Fragmente,   experimentelle   Synthesizer   eine   Klangwelt,   die   durch   die   Gießhalle   strömte   und   ausschließlich   strahlende, begeisterte Gesichter hinterließ. Die   größte   Hoffnung   der   türkischen   Rockmusik,   Gaye   Su   Akyol   selbst   präsentierte sich   als   hypnotische   Performerin:   ihre   Stimme   mal   seidig,   mal   rau;   dazu   holte   sie Blicke    ins    Innere    –    mal    introspektiv,    mal    ekstatisch.    Neben    ihren    beiden Mitstreitern   an   den   Drums   und   Tasten/Gitarre   übernimmt   sie   live   immer   wieder ein   zusätzliches   kleines   Schlagzeug   und   gibt   den   tanzbaren   Songs   zusätzlich Wucht. Bühne    und    Licht    waren    sehr    zurückgenommen:    Kühle    Spots,    gelegentliche Nebelschwaden   –   als   wären   Klangfarben   sichtbar   gemacht   worden.   Die   Gießhalle fungierte als Resonanzkörper und Kosmos zugleich. Gaye   Su   Akyols   Musik   passte   perfekt   zum   Setting:   Anatolischer   Mythos   trifft industrielle    Monumentalität.    Die    Gießhalle    bot    Raum    für    Reflexionen    über Geschichte,   persönliche   Freiheit   und   künstlerische   Macht,   Transformation   und Protest.   Als   feministische   Stimme   und   Teil   der   „queeren“   Szene   und   kritische Beobachterin   der   Türkei,   war   ihr   Auftritt   ein   Statement   für   künstlerische   Freiheit und    kulturelle    Brückenbildung:    Gaye    Su    Akyol    besitzt    als    Künstlerin    globale Relevanz. Dem   Publikum   hat   es   gefallen;   alle   gingen   etwas   glücklicher   und   reicher   heim, als   sie   gekommen   waren.   Welches   größere   Kompliment   könnte   es   für   Musiker geben?
© Thomas Berns
„Konsequente Fantasie ist die Realität.                                Ist der Tod real oder ein Traum?                                     Möge mein Schmerz deinen teilen…                                                                   Aber scheiß drauf, das Leben ist Rock’n’Roll.“
© Thomas Berns
© Thomas Berns
© Thomas Berns